Bernadette

Nun war Bernadette endgültig durch die Prüfung gefallen. Hübsche Aussichten. Buchführung, Zahlen addieren, Salden vergleichen, Kassen abschiließen, alles Geschichte ‑ bäh! Dafür war sie jetzt frei. Tirili! Hungrig, frei und verliebt. Das Institut mit dem hochtrabenden Namen Academie Industrielle Champagnoise hatte Ihr den Aufbaukurs für Buchhaltergehilfinen mit 100prozentiger Jobgarantie angeboten. Eigentlich waren die Übeltäter Ihre Eltern, oder sagen wir besser: die Opfer der Akademie, Ihre Eltern, hatten sie auf Knien angefleht in den Aufbaukurs zu gehen.

So eine Chance wirst du nie mehr in deinem Leben haben, schrie ihre Mutter.

Bildung ist der Weg zum Erfolg, brummelte ihr Vater.

Und dann hatten sie den sündhaft teuren Preis für den Kurs auch noch unnötigerweise im voraus bezahlt. Aber jetzt war sie, wie die restlichen 99% ihres Kurses, durchgeflogen und die 100prozentige Jobgarantie hatte sich in Rauch und Vorwürfen aufgelöst.

Was sollte sie noch in Minaucourt‑le‑Mesnil‑les‑Hurles. In dem flachen Nest, wo das Auge rundum bis an den Horizont blicken konnte ohne über eine nennenswerte Erhebung zu stolpern. Kein Wunder, daß man Champagner erfinden mußte, in einer so trostlosen Landschaft. Bernadette blickte an sich herab und fand, daß sie eine Tochter ihres Dorfes war. Aber der deutsche Vollbartriese, den sie vor ein paar Wochen in Reims kennenlernte, hatte sich nicht daran gestört.

Bernadette betrachtete sich in dem halbblinden Spigel, dem schon etliche Bauerngenerationen zum Opfer gefallen waren. So komme ich nicht zum Film, dachte sie ‑ flache Brüste, kurze Beine und eine nicht bestandene Prüfung in Buchführung und Betriebswirtschaftslehre. Von Steno und Schreibmaschine ganz zu schweigen ‑ aber vielleicht nach Deutschland. Lupo, das germanische Bartungeheuer hatte sie eingeladen. Sie runzelte die Stirn und streckte ihren Zeigefinger warnend in den Spiegel.

Ich werde noch Pierre Ledroux heiraten müssen, wenn ich nicht schnellstens verschwinde!

Der Spiegel antwortete nicht. Der dicke Pierre Ledroux, der es nie schaffte, den Geruch seines Schweinestalls ganz abzulegen, wollte sie tatsächlich heiraten. Er hatte wohl zuviel Gülle gesoffen.

Warum regnete es nicht? Die strahlende Morgensonne verdarb ihr die Laune. Ihre Eltern waren schon im Dunkeln arbeiten gegangen: aufs Feld, die Kühe melken, die Schweine füttern, die Hühner, Kaffee mit Hund und Katz, wieder aufs Feld, in den Garten, in die Scheune, rauf auf den Trecker, runter vom Trecker. Lebenslang Aktivurlaub auf dem Land. Wozu? Die Kreiszeitung gratulierte zum 90sten, das RTF zum 100sten und der Präsident zum 110sten. Ob man nun als Baby in die Jauchegrube fiel oder gefallen wurde oder mit 120 Jahren einer Fischgräte die Ehre erwies röchelnderweise an ihr zu sterben, es kam auf eins hinaus: lebendig wie tot begraben zu sein in: Minaucourt‑le‑Mesnil‑les‑Hurles.

Bernadette ging in die Küche und goß sich eine Tasse lauwarmen Kaffees sein. Ihre Mutter wärmte den Kaffee immer in der Mikrowelle auf. Bernadette hatte etwas gegen Mikrowellen. Sie wußte nicht wieso, aber sie haßte Mikrowellen. Andererseits war sie zu faul frischen Kaffee aufzusetzen. Mit der Kaffeetasse in der Hand stolperte sie aus dem Haus zur angrenzenden Pferdekoppel. Monsieur Hulot kam mit geblähten Nüstern und einem freundlichen Wiehern auf sie zu . Sie steckte ihm die verbotenen Zuckerstücke ins Maul anstatt ihn endlich mal zum Zahnarzt zu schleppen. Monsieur Hulot kaute genüßlich die Zuckerstücke und dachte überhaupt nicht an Zahnärzte.

Was soll ich bloß machen, mon vieux, die Alten wollen mich mit mit Pierre Ledroux verheiraten. Nur weil ich durch die Prüfung geplumpst bin. Sie glauben der Zug ist abgefahren und wenn das Gör jetzt nicht unter die Haube kommt, geht die Welt unter. Was soll ich bloß machen?

Hau doch ab, sagte Monsieur Hulot und drehte ihr seinen wohlgeformten Arsch zu. Er hatte es satt ihren morgendlichen Monologen zu lauschen. Die Zuckerstücke mochten ja angehen, aber auch noch zuhören, das war einfach zuviel.

Ich bing dich nochmal zum Zahnarzt, schrie ihm Bernadette nach.

Dann rief sie den Vollbartriesen an: Achtung, ich komme! Und rasier dich vorher mal!

Der Vollbartriese war zwar etwas pockennarbig im Gesicht und furchtbar langsam im Kopf, aber er hatte einen Fotoapperat und wollte ständig mit ihr schlafen. Seine Freunde nannten ihn Lupo. Es konnte einem schlimmeres passieren. Lupo sagte Wauwau, aber Bernadette verstand soetwas wie: Ich will mit dir schlafen. Schnell packte sie ihre Sachen und machte, daß sie wegkam.

Wo willst du hin, mein Kind, rief ihre Mutter aus der offenen Schweinestalltür und überdachte ihre Augen mit der Handfläche.

Zigarettenholen, rief Bernadette, und war schon um die Ecke verschwunden.

Frau Boulanger drehte sich zu ihrem Mann um: Wie kommt das Kind zum Nikotin?

Na wie schon, brummte Herr Boulanger, vermutlich genauso, wie du zu diesem Kind gekommen bist. Dann wandte er sich wieder seiner Sau zu.

Bernadette bedankte sich bei ihrem Schicksal. Der schrottige Peugot von Leduc kam gerade vorbei. Sie winke ihm und Leduc trat auf etwas, was er für eine Bremse hielt. Die Milchkannen hinten schwappten um die Wette.

Wo wilst du hin, Ma Pettitte? , grinste Leduc und hielt ihr die Tür auf.

Fährst du nach Reims? frage Bernadette obwohl sie genau wußte, daß Leduc nie nach Reims fuhr.

Meinetwegen fahr ich auch nach Reims, sagte Leduc, Hauptsache, die Milch wird nicht sauer. Vite, vite, depeche toi!

Bernadette stieg ein und Leduc gab Gas. Als sie zurückblickte, sah sie die hagere Figur von ihrem Vater in der Einfahrt ihres Hofes stehen. Er hielt eine Mistgabel in der einen Hand und hatte die andere in die Hüfte gestützt. Hätte er eine dritte gehabt, dann hätte sich wohl seinen kahlen Kopf damit gekratzt.

Bernadette sagte nochmal merci zu ihrem Schicksal. Es hatte ihr Lupo geschickt. Wenn sie daran dachte, daß sie eine Prüfung wiederholen sollte und in irgendeinem Steuerberatungsbüro verstauben würde und am Ende diesen Ledroux heiraten durfte, Kinder kriegen und Häuschen bauen ‑ dann wurde ihr ganz schlecht.

Aber sie hatte Lupo kennengelernt, den langgestreckten Germanen. Sie hatte ihm zugesehen, wie er auf einem Soldatenfriedhof herumstolperte und das Unkraut zwischen den Kreuzen bedrohte. Beim zweihundertsiebenundfünfzigsten war er ihr so nahe gekommen, daß er sie nicht mehr übersehen konnte.

Bist du aus der Klapsmühle ausgebrochen?

Nein, ich bin Kriegsdienstverweigerer. Ein wenig stolz warf sich Lupo in die nicht vorhandene Heldenbrust.

Soso.

Eine verlegene Pause entstand und Lupo reckte seine von der Arbeit schmerzenden Glieder. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die Provokateurin. Er hatte keine Lust sich zu unterhalten. Vor allem nicht mit vorwitzigen, stupsnäsigen, sommersprossigen und flachbrüstigen Französinnen.

Willst du mit Unkrautrupfen den dritten Weltkrieg verhindern?

Weißt du etwas besseres?

Ja, eine große Dose Unkrautex vom Potin.

Nein, rief Lupo voller Entrüstung. Erst bringt man hunderttausende von Soldaten mithilfe von Senfgas unter die Erde und dann willst du sie nochmal mit DDT besprühen. Zur Bekräftigung schlug er mit der Faust auf eines der Kreuze. Das sind hier alles deine Landleute. Franzosen, verstehst du? Francais!

Wenn du weiter so auf dem Kreuz rumhaust, sagte Bernadette, kriegt der arme Kerl da unten noch Magenschmerzen.

Darauf wußte Lupo nichts zu sagen.

Eh, bien, lenke Bernadette ein ‑ überlassen wir die Details den Politikern. Das ist ihr Job. Du verschwendest hier nur deine Zeit.

Nein, protestierte Lupo, ich verschwende überhaupt keine Zeit.

Doch, sagte Bernadette, das Sozialamt vom Destrict wollte die Arbeitslosen deinen Job machen lassen. Du kostest unseren Steuerzahlern das Geld, was unsere Arbeitslosen nicht in unseren Kneipen ausgeben können. Insofern schädigst du sogar unsere Wirtschaft.

Lupo wirbelte mit seinen Armen in der Luft rum und wies diese Anschuldigung weit von sich. Während Bernadette ihn mit ihren dunklen Augen spöttisch ansah, bemühte Lupo seine inneren Werte, seine Kontemplation, seine politische Integrität. Umsonst. Imgrunde war er nur hier, weil er arbeitslos war. Aber das konnte er ja nicht zugeben. Dann ging ihm die Munition aus und als er mit den Augen irgendwo im Himmel nach weiteren Argumenten suchte, um die verlegene Pause zu überbrücken, lud Bernadette ihn schnell zu einem Demi Rouge bei Janne D’arc ein.

Lupo murmelte etwas von Fahnenflucht, die er an der Friedensbewegung begehen würde, aber dann klappte er plötzlich seinen Mund zu. Er war auf die Idee gekommen Bernadetts Sommersprossen zählen zu müssen und dann war ein Demi Rouge auch besser als das Mineralwasser, das er unter eins der siebentausend Kreuze gestellt hatte und von dem er wußte, daß er es bis zum dritten Weltkrieg garantiert nicht wiederfinden würde und außerdem war ihm die ganze Kriegsgräberfürsorge egal. Aber konnte er das zugeben?

Jeanne D arc war ein kleines Hotel mit einem alten Barraum. Das Zimmer mit der Nr. 15 ging zum Dorfplatz raus und man konnte die normannische Kirche sehr gut bewundern, aber man konnte auch sehr gut die schweren Vorhänge zuziehen ohne daß ein Lichtschimmer durch die farbigen Jugendstilfenster fiel.

Bernadette wußte das, aber es dauerte noch vier oder fünf Demi Rouges, bis Lupo das Zimmer mit der Nummer 15 begehrte um dann festzustellen, daß er bei zugezogenen Vorhängen Bernaderts Sommersprossen nicht zählen konnte.

Der nächste Morgen kam unerbittlich. Bernadette kümmerte sich nicht um das besorgte Gesicht ihrer Mutter und auch nicht um die vielsagenden Kommentare ihres Vaters. Ledroux würde sie ein Parfumfläschchen schenken und außerdem hatte sie ein bischen Urlaub verdient nach all dem Stress mit der Buchhaltung.

Lupo war für sie das Tor der Welt und ein bischen lieben tat sie ihn auch. Und er hatte Wauwau gesagt, was immer das heißen mochte.

Leduc grinste sie an, als sie vor dem Bahnhof in Reims hielten.

Haust du ab?

Ich hau ab, seufzte Bernadette, woher weißt du?

Weil ich auch schon mal abhauen wollte, sagte Leduc. Aber ich hab mich nicht getraut. Sieh zu, daß du weg kommst. Nachher mußt du noch Milchkannen ausfahren.

Der Beamte am Fahrkartenschalter runzelte die Stirn: Wo wollen Sie hin, ma belle? Kiel? Das kann ja kein Mensch aussprechen, buchstabieren Sie das bitte mal.

Bernadette tat ihm den Gefallen.

Kapa, wie Kinesitherapheute oder Kifkif.

Der Beamte machte sich Notitzen. Wie schreibt man Kinesitherawas?

Bernadette erklärte es ihm.

I, wie Illetre oder Imbecile.

Öh, wie Emberlificoter oder Epilatoire.

Und Elle, wie Lazulite oder Levraut ‑ compris?

Der Beamte schrieb noch eine Weile und nickte. Die Schlange hinter Bernadette wurde langsam nervös. Einem Herrn mittleren Alters kam sogar der Schweiß auf die Glatze. Er wollte nach Ornolac‑Ussat‑les‑Bains und war noch nie ein guter ABC‑Schütze gewesen.

Also, Kapa, wie Koitus, I, wie Interumptus, Öh, wie Ergo und Elle, wie Lambretta? fragte der Beamte.

Jaja, sagte Bernadette und schaute auf die Schlange, die nun auf Bernadette schaute, wie die Schlange auf das Kanninchen.

Nun geben Sie mir doch schon die Karte, rief sie, Lupo wartet.

Ach, diese Liebe zu den Tieren, seufzte der Beamte und gab ihr die Karte. In Annover müssen die umsteigen, ma belle, aurevoir.